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Kreta - Bella

Hoffnungslos hoffnungsvoll

Ein Bericht von Julia Gruhn, Tierärztin

Wir kennen nicht alle Hunde aus den Tierheimen, die wir regelmäßig für unsere Kastrationskampagnen besuchen, dafür sind es einfach zu viele.
Aber einige kennen wir doch!

Das sind zum Einen die „Privilegierten“, die sich im Tierheim frei bewegen dürfen und sich jedes Mal, wenn wir zur Kastrationskampagne kommen, unsere Aufmerksamkeit einholen, indem sie uns vor Freude mit dem Schwanz wedelnd begrüßen, uns vor Begeisterung wild anspringen oder uns vor lauter Überforderung erregt anbellen.

Zum anderen sind es die „Hoffnungslosen“, die besonders „Armen“, nämlich die Hunde, die schon ewig im Tierheim sitzen und dieses auch niemals wieder verlassen werden. Häufig sind das die großen Hunde, oft von schwarzer Fellfarbe oder generell die Alten. Immer sind es die Kranken oder Gehandicapten. Und mit einhundertprozentiger Sicherheit sind es die sogenannten Listenhunde. Hunde, die genetische Merkmale der für den Kampf gezüchteten Hunderassen in sich tragen. Wir kennen diese Hunde, weil sie eben schon immer da waren oder weil wir in deren medizinischen Problemsituationen zu Rate gezogen werden.

Am letzten Einsatztag werden wir gebeten „Bella“ anzuschauen, bevor wir unseren Tierheim-OP zusammenpacken. Sie habe stark abgebaut in den letzten zwei Wochen und seit einigen Tagen hat sie das Fressen gänzlich eingestellt. Sie wurde bereits zur Blutuntersuchung bei dem Tierarzt vor Ort vorgestellt. Die Tränen in den Augen der Tierheimmitarbeiterin bereiten uns auf den Ernst der Lage vor.
Ich kenne Bella. Wir alle kennen sie.

Leider nicht, weil sie zur Gruppe der „Privilegierten“ zählt, sondern weil sie in einer Hülle mit den aufgeführten Merkmalen steckt, die sie als Tierheimhund in die elendige Sackgasse der „Hoffnungslosen“ verdammt. „Bella“, eine stolze, kalbsgroße, schwarze, 40 kg schwere, Pitbull-Mischlingshündin, die schon immer da war und für immer dableiben wird.

Lisa, meine Assistentin, und ich stehen vor ihrem Zwinger. Es verschlägt uns beiden die Sprache. Die Hündin vor uns ist nicht die beschriebene Bella, die wir kennen. Es ist ein armseliger Geist aus Haut und Knochen, der vor uns steht und uns mit gesenktem Kopf, aus leeren Augen anschaut. Mit nur einem Blick ist klar: Die Lage ist tatsächlich Ernst.

Uns bleibt nicht viel Zeit, denn schon am nächsten Tag müssen wir abreisen. Ich untersuche sie, studiere die Blutbefunde und trage alle Informationen über ihren Gesundheitszustand zusammen. Bella hat einen akuten Leishmanioseschub, Stadium 3 von 4. Ihr Zustand: kritisch. Ihre Nieren: hochgradig geschädigt. Ihre Prognose: vorsichtig bis schlecht. Die gnadenlose Infektionskrankheit hatte zugeschlagen und sie an einen Punkt gebracht, an dem sich der Tod, ohne tägliche Infusionen, teure Medikamente und aufwändige medizinische Betreuung, nicht aufhalten lässt.

Niedergeschlagen fahren wir am Abend ins Hotel. Anstatt nach den fünfundvierzig erfolgreichen OPs des Tages zu entspannen, begebe ich mich in ein Gedankenkarussell. Mir dreht sich der Magen bei meinem Gedanken, den ich hier kaum formulieren mag.

Ist der Tod das dankbarere Schicksal für einen Hund der „Hoffnungslosen“, fern von jeder Aussicht, das Tierheim jemals wieder zu verlassen, Liebe zu erfahren oder die Pfoten auf eine grüne Wiese setzen zu können?

Dazu eine chronische, nicht heilbare Krankheit in sich zu tragen, die ihren Körper, sollte sie es überhaupt überleben, immer wieder vor neue, harte Bewährungsproben stellen wird. Ist es vielleicht ein fairer Deal, sie gehen zu lassen, wenn doch der Tod schon winkend vor der Tür steht? Meine Überlegung fühlt sich sträflich an.
Bis spät diskutieren Lisa und ich darüber, denn wie sich herausstellt, kreisen dieselben Gedanken auch durch ihren Kopf.

Was ist unsere Aufgabe im Tierschutz? Was ist medizinisch möglich? Wo liegen die Grenzen unseres Einflusses? Wir versuchen das Zusammenspiel von Tierschutz, Medizin und Philosophie zu ergründen. Wir finden keine klare Antwort und erkennen, dass es keinen „richtigen“ Weg gibt. Doch wir treffen in dieser Nacht einen Entschluss: Wir glauben an das Leben und möchten ihr, der „Hoffnungslosen“, Hoffnung schenken. Mit dem festen Glauben an eine hoffnungsvolle Zukunft, wie auch immer sich diese gestalten mag. Im Leben liegt nicht alles in unseren Händen aber in diesem Moment hängt es eindeutig von unseren ab.

Es musste schnell ein Plan zur praktischen Umsetzung unseres Vorhabens her.
Die einzig realistische Überlebenschance hat sie, wenn sie mit uns kommt, denn nur auf unserer Station können wir eine adäquate medizinische Betreuung sicherstellen. Sie muss an den Tropf, benötigt eine Chemotherapie und engmaschige Kontrollen. Doch bevor wir uns auf ihre Therapie stürzen, müssen wir auch hier realistisch sein und drei Schritte voraus denken. Unser Entschluss droht zu scheitern.
Was machen wir mit ihr, wenn sie es tatsächlich überlebt? Normalerweise sorgen wir dafür, dass Tiere, die es einmal an Bord der „Arche Noah“ geschafft haben, am Ende eine gesicherte Zukunft und ein schönes Zuhause bekommen. Für Bella steht eine Vermittlung nach Deutschland auf Grund ihrer Rasse nicht zur Option, denn es ist rechtlich verboten. Wir können sie also nur unter einer Bedingung mitnehmen: nach ihrer Genesung muss sie zurück - zurück ins Tierheim. Sowas haben wir noch nie gemacht. Es ist ein Risiko und ich habe große Sorge, dass es Probleme geben wird, denn es wird uns natürlich das Herz brechen.

Wir verlassen das Tierheim mit unserer Bella im Kofferraum. Im Rückspiegel habe ich Kontrolle über ihre langsam tropfende Infusionsflasche, die wir an der Innenauskleidung des Kofferraums fixiert haben. Die Therapie beginnt!

Realistisch zu bleiben und zu akzeptieren, dass wir manchmal keine perfekten Lösungen finden können, ist wohl der schwerste Part unserer Arbeit.

Trotzdem kämpfen wir den Kampf der Hoffnungslosen weiter und bleiben hoffnungsvoll.
Für Bella hoffen wir auf ein kleines Wunder. Nämlich, dass sich ein friedlicher Ort in Griechenland findet, wo sie bleiben kann. Wo sich um ihr leibliches und gesundheitliches Wohl gesorgt wird und sie ihr hoffentlich geschenktes Leben auch leben kann.
Ist da jemand mit einer Idee für sie?

Nachtrag: Mittlerweile ist Bella seit einem Monat bei uns. Ein Monat voller Höhen und Tiefen. An guten Tagen ist sie munter, frisst mit Appetit und genießt die menschliche Zuneigung. Sie flitzt über den Hof, genießt die Frühjahrssonne und hat sich zu einer begnadeten Ballspielerin entwickelt. Jedoch erleben wir auch schwere Tage zusammen, an denen sie sich kaum zum Fressen überreden lässt und uns damit zeigt, dass sie noch immer nicht über den Berg ist.

Aber die leishmanizide Therapie ist gerade eben erst vorbei und jeder kann sich vorstellen, welche Belastung das für einen, eh schon ausgemergelten Körper, ist. Was uns aber alle fasziniert, ist Bellas Wille leben zu wollen, was sie uns an jedem, auch an ihren schwachen Tagen, mehr als deutlich zeigt.
Wir haben die richtige Entscheidung getroffen und ihr versprochen, dass sie in das Tierheim nie wieder zurück muss.
Eure Julia