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Mio - die vergessenen Seelen

Ein Bericht von Michelle Hoffmann, Tiermedizinstudentin

Mein Handy vibriert. Mich erreicht eine Nachricht von Tierärztin Nina Schöllhorn aus Rumänien. Kommentarlos sendet sie ein Video. Ich öffne es und sehe einen Husky, der in seinem tristen Zwinger seine Kreise dreht. Immer und immer wieder läuft er einen kleinen Kreis in seinem kleinen Zwinger. Vollkommen abwesend. Sein Laufweg zeichnet sich bereits deutlich im Dreck ab.

Sein Blick ist leer. Sein Körper scheint völlig ausgezehrt. Sein Anblick stimmt mich unglaublich traurig.
Ich starte das Video erneut.

Sofort fühle ich dieselbe Leere, wie sie auch dieser Hund zu spüren scheint.
Ich lege mein Handy zur Seite und versuche, mich abzulenken.
Doch der Gedanke an diesen armen Hund lässt mich einfach nicht mehr los. Immer und immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich mir das traurige Video zum zigsten Mal anschaue.

Er gehört zu den vergessenen Seelen. Wie viele von ihnen gibt es wohl? Die verlorenen Seelen, abgestempelt als aggressiv, abgestumpft durch das triste Leben im Tierheim oder einfach zu groß, dunkel oder nicht hübsch genug. Oder vielleicht einfach nur zu alt? Wenn ich durch eines dieser „Aufbewahrungslager“ laufe, das Wort Tierheim haben sie längst nicht verdient und wäre eine Beleidigung an alle deutschen Tierheime, dann merke ich oft, wie ich nicht traurig vor den kleinen, niedlichen Hunden stehen bleiben muss, sondern die alten, die unscheinbaren, die ängstlichen und auch die bereits geistig abwesenden ansehen muss und weiß, dass sie verloren sind. Ihre Chance, jemals dem Platzmangel, dem dreckigen Boden, der klirrenden Kälte im Winter, dem Gestank, dem täglichen Kampf ums Futter und Wasser zu entkommen, scheint aussichtslos. Die einzelnen Gruppenzusammensetzungen sind wahllos gewählt, der Platz viel zu klein. Schwere Beißereien sind an der Tagesordnung, die auch regelmäßig mit dem Leben bezahlt werden. Schulterzuckend wird das tägliche Drama hingenommen. „Wir haben ohnehin viel zu viele Hunde.“ Durch die Gänge zu gehen und zu wissen, dass sie nie gesehen werden, nie eine Chance bekommen werden und mit meinem Weitergehen verloren sind, da auch ich sie nicht mitnehmen kann, ist eines der schlimmsten Dinge, die ich im Einsatz erlebe. Und es treibt mir jedes Mal die Tränen in die Augen.

Wieder sehe ich das kurze Video von Nina an. Soll auch er für immer verloren sein? Ich bitte um weitere Informationen.

Nina ist zu dieser Zeit zum ersten Mal in diesem Tierheim. Ein Tierheim mit über 400 Hunden, die Zuständigen vor Ort sind völlig überfordert. Nina möchte mit Kastrationsaktionen helfen und auch bei den Vermittlungen der freundlichen, gut vermittelbaren Hunde unterstützen.

Nina schreibt: „Hier sind viele freundliche Hunde, die sicher eine gute Chance auf Vermittlung haben, aber der Husky? Ich weiß nicht recht, laut den Zuständigen sitzt er bereits seit über vier Jahren hier, dabei ist der arme Kerl doch erst fünf Jahre alt. Die Arbeiter behaupten, er wäre aggressiv, nicht zu händeln und sie haben ihn noch nie in seinem Leben angefasst. Ein fünfjähriger Hund, der seit vier Jahren keine menschliche Zuneigung mehr erfahren durfte! Eingesperrt mit acht weiteren Rüden auf engstem Raum. Ein Mobbingopfer! Heute Morgen habe ich gesehen, wie einer der anderen Rüden im Zwinger auf ihn stürzte und ihn schwer verletzte. Wieder einmal. Seine vielen Narben sprechen deutliche Bände. Wir konnten im letzten Moment Schlimmeres verhindern…“

Die Vorstellung, wieder einmal an einer vergessenen Seele vorbeizugehen und sie damit zu einer verlorenen Seele zu machen, lässt mich nicht mehr los.
Ich stehe zwischen den Stühlen, schreit mein Gewissen doch: „Der Hund wird nie jemanden finden, der ihn aus dem Tierheim befreit. Wer nimmt schon solch einen Hund?“

Meine Liebe zu den Nordischen ist seit meiner Kindheit ungebrochen und so ist das Wissen über diesen Husky und seine ausweglose Lage kaum auszuhalten. Gleichzeitig weiß ich, dass ich ein Überraschungspaket in den Transporter laden würde, der von „alles doch nicht so schlimm“, bis hin zu „aggressiv dem Menschen gegenüber“ sein könnte. Denn die Pfleger sind sich einig: Sie werden den Rüden nicht anfassen und Nina kann den Zwinger nicht betreten, um eine eigene Einschätzung vornehmen zu können. Als Fremder einen winzigen Zwinger mit großen Rüden zu betreten, in dem bereits ein hohes Maß an angestautem Frust und Aggressivität herrscht, kann für einen selbst schnell lebensgefährlich werden.

Es ist ein hohes Risiko, einen Hund zu nehmen, der vor Ort nicht von zuverlässigen Leuten eingeschätzt werden kann, das ist auch mir bewusst.
Manch einer mag jetzt fragen, was so etwas mit professionellem Tierschutz zu tun hat, könnte man doch mindestens zehn freundliche Hunde dafür retten, doch auch zum professionellen Tierschutz gehören meiner Meinung nach manchmal risikoreiche Entscheidungen, die das Herz entschieden hat! Denn wer so tief im Tierschutz  steckt, der muss manchmal auch sein Herz entscheiden lassen, um nicht unterzugehen. Der Unterschied besteht jedoch darin, ob es eine schnelle und kopflose Entscheidung ist, ohne sich über mögliche Folgen und deren Beseitigung im Klaren zu sein, oder ob man sich auf den Worstcase einstellt, mit genügend „was ist, wenn…“-Plänen.

Ich brauche also einen Plan B, besser noch einen Plan C und D für den Fall, dass der Husky im Haus wirklich nicht zu integrieren ist. So beginnt eine Zeit der Planung. Gemeinsam mit meiner Familie und dem Team spielen wir jede Eventualität durch, um auf alles vorbereitet zu sein. Auch Sabrina Klüßendorf ging das Video sehr nahe und so stellt sie meinen Plan B dar. Sie selbst ist mindestens genauso der Liebe zum Husky verfallen und hätte im Notfall einen leeren Zwinger im Garten. Sollte er im Haus nicht zurechtkommen, würde er einen eigenen Zwinger bekommen. Ein Zuhause, das ihn regelmäßig füttert, für ihn sorgt und in dem er keine Angst haben muss, dass er von anderen Hunden tot gebissen wird. Schließlich stehen die Pläne und der seit Jahren namenlose Husky bekommt den Namen Mio.

Ein paar Wochen später ist es so weit: mit einem mulmigen Bauchgefühl fahre ich zum Treffpunkt, um Mio vom Transport abzuholen.
Meine Gedanken kreisen um die Ungerechtigkeit.
Ihre leeren Augen. Die Verzweiflung, die sie Jahre lang gespürt haben müssen, bis sie letztlich aufgegeben haben. Um den aufgeweckten, fröhlichen Welpen, der voller Lebensfreude alles hinnahm wie es kam und sich von nichts herunterziehen ließ. Das grausamste Los des Lebens gezogen hatte, was er hätte ziehen können. Angst, Kälte, und ein Leben ohne Liebe. Die Seele scheint gegangen, nur noch die leere Hülle vegetiert vor sich hin, darauf wartend endlich zu sterben.

Sind diese Hunde verloren? Oft scheint es, als wären sie verloren. Sie sind reizarm und desinteressiert. Sie möchten keinen Kontakt zu Menschen, ihnen scheint alles egal. Sie haben abgeschlossen. Nach Jahren der Hoffnung, einfach aufgegeben.

Wie oft haben sie wohl schwanzwedelnd am Zwinger gestanden und jeden vorbeigehenden Menschen angefleht: nimm mich, nimm doch bitte mich mit. Ich werde ein toller Freund werden, ich verspreche es. Wie oft wurden sie wohl enttäuscht? Wie oft ist man an ihnen achtlos vorbeigegangen, ohne ihnen nur einen Augenblick der Aufmerksamkeit zu schenken? Sie werden älter und erfahrender. Das Schwanzwedeln wird weniger. Sie wissen, dass man sich nicht für sie entscheidet, sie haben es etliche Male zu spüren bekommen. Ob sie wissen, warum? Ob sie sehen, dass es Leidensgenossen gibt, die kommen und nach wenigen Tagen wieder gehen? Dass es meistens die kleinen, süßen sind? Ob sie denken, dass sie nicht genug wert sind?

Wie übersteht man einen Alltag, der von Gewalt, Langeweile und Frust geprägt ist? Ein Husky, der normalerweise Kilometer weit glücklich über die Wiesen rennen würde, ohne erschöpft zu sein. Eingepfercht auf heruntergerechnet vielleicht zwei Quadratmeter Platz für sich? Eine Seele, die normal, eigenständig und willensstark ist. Ohne äußere Reize vergessen. Sie brauchen einen Ausgleich, der meist damit einhergeht, dass sie stundenlang bis zur totalen Erschöpfung im Kreis laufen. Es ist ähnlich, wie es bei Zoo- und Zirkustieren zu beobachten ist, die ihrer Freiheit beraubt wurden. Abwesend, nicht mehr ansprechbar, versuchen sie ihr trostloses Leben ein wenig erträglicher zu machen.

Mio bekommt seine Chance. Die Chance, seine verlorene Seele zu retten. Die Chance auf ein besseres Leben. Seine einzige.
Ich bin auf dem Weg zu ihm, entschlossener  denn je, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Die Übergabe verläuft unerwartet einfach und ich bin froh, ihn sicher in der Hundebox im Auto zu haben. Auf dem Rückweg hält man es selbst mit offenen Fenstern kaum aus. Der Gestank ist bestialisch. Zu Hause angekommen entpuppte sich Mio sofort als alles andere als aggressiv dem Menschen gegenüber. Sofort lässt er sich streicheln. Natürlich ist er von der Reise völlig fertig und in einem schlimmen Zustand, trotzdem muss er noch ein Bad über sich ergehen lassen, damit wir es mit ihm aushalten. Und auch das lässt er einfach so über sich ergehen. Ich nutze nicht einmal einen Maulkorb, ich spüre sofort, dass er mir nichts tun wird.

Die Tage vergingen und er lebte sich immer mehr ein. Das Haus machte ihm große Angst. Die ersten Tage blieb er in seinem bekannten Rhythmus. Er bewegte sich in kleinen Kreisen auf zwei Quadratmetern. Unsicher und hechelnd, bis er todmüde im Stehen einschlief.

Doch jeden Tag konnte man einen kleinen Fortschritt sehen. So traute er sich nach einer Woche das gesamte Wohnzimmer zu erkunden, bis er sich letztlich im ganzen Haus bewegen konnte.
Mio entwickelte sich zu einem unfassbar liebenswerten Freund. Niemals wird dieser Hund je einen Menschen gebissen haben, da sind wir uns alle sicher. Er hat einen unfassbar tollen Charakter.
Es ist unglaublich beeindruckend zu sehen, wie Mio nach so vielen Jahren der völligen Verwahrlosung trotzdem den Glauben an die Menschheit behalten und seine Gutmütigkeit bewahrt hat.
Fremde Hunde sind allerdings ein Problem für Mio. Durch seine vielen Verletzungen, die ihm in all den Jahren durch andere Hunde zugefügt wurden, kann er fremden Hunden nicht mehr trauen.
Eine Ausnahme war unsere vorhandene Hündin.

Durch sie hatte Mio die nötige Sicherheit, um sich mit Geduld und in seinem geschützten Umfeld auch mit anderen Artgenossen vergesellschaften zu lassen. Vertraute Hunde wurden zu Freunden.
Ein weiterer, großer Schritt in die Normalität.

Mio genoss nun Liebe, Fürsorge, ein warmes Bettchen, tägliche Spaziergänge und vieles mehr. Sein kaputtes Auge wurde entfernt, da es nicht zu retten war und Schmerzen verursachte. Er blühte immer mehr auf. Aus einem verlorenen Hund wurde ein gezeichneter, aber wunderschöner Husky mit einer unfassbar liebenswerten Persönlichkeit.

Über ein Jahr suchte Mio bei uns nach seiner eigenen Familie. Durch seine optischen und seelischen Narben war es nicht ganz einfach, seine Menschen zu finden.
Doch plötzlich waren sie da. Fünf Stunden Fahrt nahmen sie auf sich, um Mio kennenzulernen und um sich in ihn zu verlieben.

Und ich bin so glücklich, wenn ich jetzt die schönen Bilder sehe, die einen völlig anderen Hund zeigen als den, der vor drei Jahren aus dem Transporter ausstieg. Voller Lebensfreude rennt er durch den Wald und kuschelt mit seinen Menschen.

Mio, du tust Dich heute noch oft schwer mit neuen Situationen, aber Du vertraust deinen Menschen. Ich bin unglaublich froh, dass wir es gewagt haben und Du Deine Chance bekommen hast.
Und jetzt kannst Du leben! Du hast es so verdient!

Danke an deine Familie und an all die, die uns bei der Aktion unterstützt haben. Danke auch an jeden, der einem Hund aus dem Tierschutz die Chance auf ein glückliches Leben gibt. Denen Narben und Alter egal sind und die sie nehmen und lieben, wie sie sind. Die, die sonst keiner haben will.

Mio, du hast mir wieder einmal eindrücklich gezeigt, dass es sich lohnt, für die verlorenen Seelen einzustehen. Deine Entwicklung, die du bei uns gemacht hast und auch weiterhin machst, ist einfach nur unglaublich!

Deine Michelle