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Die Strasse zum Damm

Ein Bericht von Nina Schöllhorn | Tierärztin

Es handelt sich um eine sehr unscheinbare Straße, die sehr unauffällig von der Straße abbiegt, die ich seit langem auf dem Weg nach Slatina fahre. Da ich seit vielen Jahren in Slatina arbeite, fahre ich zahllose Male an dieser Abzweigung vorbei. Vor einigen Jahren bog ich dort ab, nicht wissend warum, ich folgte einfach einem inneren Impuls. Die Straße führt zu einem großen Staudamm. Der Fluss Olt wurde von Menschenhand sehr verunstaltet, er wurde in völlig unnatürliche betonierte Flussbetten gezwungen und an vielen Stellen durch Dämme gestaut. Am Ende der Straße saßen drei kleine Hunde. Offensichtlich hilflos ihrem Schicksal ausgeliefert, offensichtlich dort ausgesetzt. Es handelte sich um zwei Geschwister und einen weiteren Hund. Eines der Geschwister war sehr ängstlich und ließ sich nicht einfangen. Ich wollte es nicht alleine zurücklassen und ließ daher lieber beide Hunde dort zurück. Den dritten nahm ich mit und Faini fand einige Wochen später ein Zuhause bei einer guten Freundin.
Das war der Anfang.

Ich organisierte nun also die regelmäßige Fütterung der beiden Geschwister, die ansonsten dort bald verhungert wären. Ziel war es, das Vertrauen der schüchternen Hündin zu gewinnen und beide einfangen zu können. Was folgte waren zwei Monate, in denen diese Stelle also regelmäßig von einem Tierfreund angefahren wurde, mit dem wir zusammenarbeiten. Was ebenso folgte, waren zahlreiche Fotos und Videos von ausgesetzten Hunden, die er auffand, auf dem Weg zu den beiden. Mit erschütternder Regelmäßigkeit erhielt ich also Bilder von Welpen, großen, kleinen, alten und verletzten Hunden, die alle dort auftauchten. Aber ebenso wieder verschwanden, also nie länger auffindbar waren. Es sei denn, es wurde eine Futterstelle eingerichtet, wie für unsere beiden Geschwister. In zahllosen Fällen konnten unsere Freunde eine vorübergehende Unterbringung sicherstellen und ich fand einige Wochen später ein Zuhause in Deutschland. In vielen Fällen konnten wir aber nicht helfen und dies hinterließ ein zunehmend ohnmächtiges Gefühl. Nach zwei Monaten war es geschafft und die kleine Hündin hatte Zutrauen gefunden und ließ sich gemeinsam mit ihrem Bruder in Sicherheit bringen. Es waren also keine weiteren Besuche dort mehr vonnöten.
Mir ließ das Ganze allerdings keine Ruhe. Wo kamen all diese Hunde her? Was ging dort vor sich?

Bei meinem nächsten Aufenthalt in Slatina begann ich also, diese Straße öfter anzufahren. Und ich begann zu verstehen. Langsam offenbarte sich mir das ganze Grauen. Es war schlimmer als erwartet. Viel schlimmer.
 

Jedes Mal, wenn ich die Straße entlang fuhr, fand ich ausgesetzte Tiere. Und überfahrene Hunde am Straßenrand. Es handelt sich um eine Todeszone. Warum auch immer, wurde diese Straße von der Bevölkerung auserkoren, um ungewollte Hunde dort abzuladen. Dies ist weithin bekannt und für viele Bewohner Slatinas völlig normal. Einmal wurde ich beobachtet, als ich eine Transportbox ins Auto einlud und wurde angesprochen, ob ich Hunde bringe oder mitnehme. Beides schien man als normal zu erachten.

Die Hunde haben dort keine Überlebenschance. Keine. Sie finden weder Futter noch Wasser. Direkt am Damm würden sie natürlich Wasser finden und auch zumindest die Chance auf ein wenig Futter haben, denn dort gibt es Arbeiter und Fischer, die man anbetteln kann. Doch auf jeder Seite des Damms lebt jeweils ein Rudel. Diese sind halb wild, sehr schlau und misstrauisch und an die Lebenssituation dort angepasst. Sie verteidigen ihren Standort bis aufs Blut.

Was tun die ausgesetzten Hunde also? Viele bleiben genau dort sitzen, wo man sie abgesetzt hat, vor allem Welpen und kleine Hunde, die in einer Familie gelebt haben. Sie sind völlig hilflos und warten schlicht darauf, wieder abgeholt zu werden. Die etwas selbstständigeren, kräftigeren machen sich auf die Suche, erliegen aber bald der ausweglosen Situation. Unzählige Hunde werden überfahren. Die restlichen sterben auf andere unschöne Weise.

Ich habe in den letzten Jahren für weit über 50 Hunde von dort eine Möglichkeit der Hilfe gefunden. Sie alle haben es nach Deutschland in eine Familie geschafft. Doch für viele, viele mehr konnte ich keine Lösung finden. Sie einige Tage zu füttern und dann plötzlich tot aufzufinden bricht mir das Herz.

Schon wenn ich in die Straße einbiege, wird mir die Luft eng, denn ich fürchte das, was kommen wird. Ich weiß, dass das, was ich sehen werde, traurig und hilflos macht. Trotzdem fühle ich mich nicht in der Lage, dort nicht mehr hinzufahren, denn die Chance, wenigstens einigen das Leben retten zu können, überwiegt für mich.

Meine Aufgabe in Slatina ist es, zu kastrieren. Und das tue ich, ich operiere von früh bis spät, soviel es mir irgendwie möglich ist, denn dies ist das Allerwichtigste in einem Land wie Rumänien, in dem es einfach viel zu viele Hunde gibt. Eigentlich brauche ich meine Abende, um zu entspannen und Kraft zu sammeln, doch es treibt mich immer und immer wieder zum Damm. Und immer und immer wieder komme ich mit einem kleinen Wesen unter dem Arm nach Hause. Die Versorgung dieser Tiere, das gesundpflegen und aufpäppeln, die Vorbereitung auf die Ausreise und alles, was dazu gehört, kosten viel Zeit und Kraft. Beides habe ich eigentlich nicht im Überfluss. Doch ich kann nicht anders und muss wieder und wieder helfen.
Warum fühle ich so angesichts dieses Elends? Und ich bin mir sicher, Ihnen würde es genauso gehen. Und warum fühlen andere Menschen nichts dabei, ihr Haustier einfach dort auszusetzen? Ich habe unzählige Male versucht, mich in einen Menschen hineinzuversetzen, der sich seines Hundes dort entledigt. Wie um alles in der Welt kann man dazu in der Lage sein?

Und wie um alles in der Welt kann man dies verhindern?
Der Fluss Olt hat viele Staudämme. Es dauerte etwas, bis ich begriff, dass sich an jedem von ihnen exakt dasselbe abspielt. Und nicht nur an den Staudämmen. Jede Stadt, ja jedes Dorf hat seine Plätze, an denen es normal ist, Tiere auszusetzen. Ich bin in Kontakt mit einigen lokalen Tierschützern, die genau diese Plätze aufsuchen. Sie füttern, bringen verletzte Tiere zum Tierarzt und tun was sie können. Doch sie alle stoßen an ihre Grenzen, denn es sind zu viele. Es ist fast ein Ding der Unmöglichkeit, ein gutes Zuhause in Rumänien zu finden. Die Tierheime sind übervoll und haben keine Aufnahmekapazitäten. Und auch die Vermittlung nach Deutschland wird schwieriger und schwieriger. Kräftemäßig und finanziell ausgebrannt stehen mir diese Menschen oft gegenüber. Das Elend auf Dauer tagtäglich zu ertragen, ist schwer. Denn da unterscheiden sich diejenigen, deren Handeln von Empathie bestimmt ist, von denen, die frei von Empathie ihre Tiere dort abladen.

Während meiner letzten Kastrationsaktion in Slatina habe ich 597 Tiere kastriert. Ich weiß, dass ich unendlich viel ungewünschten Nachwuchs und sehr viel Leid verhindert habe. Doch ich bin mit einem zutiefst traurigen, ohnmächtigen und verzweifelten Gefühl dort abgefahren. Es war das Wissen darum, dass in den Monaten meiner Abwesenheit zahllose Schicksale nicht gesehen werden, nicht die Chance bekommen zu leben. Und es war das Wissen, dass dies nur einer von unendlich vielen solchen Plätzen in Rumänien ist.
Ich habe vor und zurück überlegt, was getan werden kann, um das Aussetzen zu verhindern. Denn eigentlich ist es auch verboten. Doch selbst wenn wir die Straße zum Damm durch Kameras oder Polizeikontrollen überwachen lassen würden, dann würden die Tiere an anderer Stelle ausgesetzt werden. Oder womöglich schlicht getötet. Man kann niemanden zwingen, ein Tier zu behalten, das er loswerden möchte.

Ich drehe mich mit den Gedanken wieder und wieder im Kreis und komme immer wieder dort an: Es fehlt an Verantwortungsbewusstsein und es sind zu viele!
Ich hoffe sehr auf die nächste Generation, was eine hoffentlich veränderte Einstellung unseren Mitlebewesen gegenüber angeht. Und gegen das Problem, dass es viel zu viele Hunde und Katzen gibt, gehen wir an. Gestern, heute und morgen. Jedes kastrierte Tier verhindert ausgesetzten Nachwuchs!

In wenigen Wochen geht es wieder nach Slatina. Ich werde wieder rechts abbiegen, es wird mir wieder die Luft eng werden, ich werde wieder ein kleines Etwas in den Händen halten und unendlich froh sein, es vor seinem sicheren Ende bewahren zu können. Ich werde all die sehen, denen ich nicht helfen kann und versuchen, das irgendwie auszuhalten.
Ich werde Futterspenden an Bord haben, um den schlimmsten Hunger stillen zu können. Ich werde Ihre Unterstützung im Rücken haben, um medizinische Hilfe leisten zu können und ich weiß, dass Sie in Gedanken bei uns an der Front sind. Und hierfür sage ich von Herzen Danke!
Ihre Nina Schöllhorn

Partner

Unsere Kastrationsaktionen in Slatina werden mitfinanziert von kids4dogs und Pfotenfreunde Rumänien e.V.